Bindung / Erziehung

Emotionale Kompetenz

Miniatur Bullterrier Lob
geschrieben von Carsten Wagner

Sei der Rudelführer und lenke deinen Hund durch mentale Stärke! So oder ähnlich hört man den Aufruf in der modernen Hundeerziehung. Doch warum scheitern so viele Menschen in ihrer Führungsposition gegenüber ihrem Hund? Einer der Schlüssel, um mit dem Tier in Beziehung treten zu können, liegt in der emotionalen Kompetenz. Doch was ist das überhaupt?

Emotionale Kompetenz ist unter anderem die Fähigkeit, die komplexen Zusammenhänge der emotionalen Prozesse in sich selber zu kennen, um darüber hinaus in die Rolle eines wertfreien Beobachters zu treten. Die Distanz zum Geschehen ermöglicht uns, in die Achtsamkeit zu tauchen, in die Präsenz mentaler Stärke. Emotionale Kompetenz ist daher ein stetiges Angehalten-Sein, die eigenen emotionalen Prozesse zu beleuchten, um ungünstiges Verhalten zurücknehmen zu können. Innovationen, Veränderungen beginnen immer im Kopf.

Emotionale Kompetenz ist das Verstehen, wie sich die Wirklichkeit der Dinge zusammensetzt. Denn unsere Sicht der Welt ist eine Illusion. Die Quantenphysik und der Buddhismus sind sich darüber einig, dass die Natur der Realität anders ist, als sie uns erscheint.

Einigkeit in Wissenschaft und Philosophie

Wie sich die Realität aufbaut, weshalb wir Menschen die objektive Wahrheit gar nicht erkennen können und warum diese philosophischen, psychologischen und physikalischen Ansichten das Begleiten im Prozess hilfreich gestalten können, versuche ich im Text zu erörtern.

Emotionale Kompetenz ist eine unabdingbare Säule von Führungskompetenz. Diese Professionalität beginnt mit der Fähigkeit, die eigenen Konstruktionen von Gedanken und Gefühlen zu verstehen.

Wir müssen davon ausgehen, dass Leadership, Führungskompetenz, nicht einfach zu erreichen ist. Es mag sein, dass charismatische Menschen ein besonderes Feeling im Umgang mit Hunden haben. Nicht selten gibt sich daher die Mehrheit mit der Aussage „Der eine hat es, der andere nicht!“ zufrieden. Doch das ist so nicht richtig. Sozialkompetenz – und eben auch emotionale Kompetenz – fällt nicht vom Himmel. Sicherlich trägt ein aufgeblähter Egoismus auch einen authentischen Lebensstil nach außen. Latscht man jedoch wie ein emotionaler Trampel durch die Gegend und lebt alles sofort nach außen, was man gerade fühlt, mag das eine authentische Haltung sein; mit Kompetenz hat dies nichts zu tun. Das eigene innere Kind von der emotionalen Leine loszulassen, damit es egozentrisch, fast schon theatralisch, die eigenen unerfüllten, emotionalen Bedürfnisse der Vergangenheit im Außen zu befriedigen sucht, in dem es mit nach außen gerichteten Ellenbogen alles anrempelt, weil es überall da Gefahr sieht, wo gar keine ist, hat gewiss das Authentische in sich. Führungskompetenz allerdings nicht.

Sozialverband in BewegungFührungskompetenz steht mit sehr vielen Faktoren im Zusammenhang, die es nicht gerade einfach machen, den Slogan „Sei der Rudelführer!“ mal einfach so im Alltag zu leben. Achtsamkeit, emotionale Kompetenz, soziale Kompetenz, kommunikative Kompetenz, Beziehungskompetenz, Konfliktmanagement, Beharrlichkeit, Kompromisslosigkeit usw. sind ineinandergreifende Komponenten, die Führungskompetenz ausmachen. Die Komplexität des Ganzen ist für den Hund relativ uninteressant, da er sich von der natürlichen, universellen Logik führen lässt. Er denkt keine Konstrukte, lebt im Hier und Jetzt und ist nicht wie der Mensch intellektuell im systemischen Denken verstrickt. Das Denken ist dem Menschen Segen und Laster. Der Hund schwingt resonanzbezogen. Daher muss sich der Mensch im Klaren sein, welche Wirkung sein Inneres nach außen trägt. Wussten Sie z.B., dass der Druck auf die Klaviertaste A eine danebenstehende Gitarre auf ihrer A-Saite schwingen lässt, ohne dass man sie berührt? Ein kleines, aber mächtiges Beispiel, das zeigt, wie alles in Verbindung steht. Man muss nur den richtigen Ton treffen! Damit der Mensch ansatzweise in die universelle Logik der Natur zurückfinden kann, muss er vor allem sich selber verstehen. Er kann sich auf den Weg machen, seine eigene Logik zu finden. Ein schmerzhafter Prozess, der Mut und Ehrlichkeit zu sich selbst abverlangt. Dieses Thema liegt mir schon lange am Herzen, da es aus meiner Sicht das Kernproblem ist, warum einige Menschen mit ihren Hunden genau da stehen, wo sie stehen.

Emotionale Inkompetenz erklärt im Gegensatz aber auch, weshalb manche Hundehalter, obgleich sie eine Technik anstandslos ausführen, nicht über den Tellerrand hinweg schauen können und in ewiger Statik verharren. Das Klammern an eine Technik steht im direkten Zusammenhang mit den in uns tiefsitzenden Kontrollmechanismen / Kontrollbedürfnissen, die sich durch den Außenreiz aktivieren. Kontrolle ist jedoch bloß die Illusion von Sicherheit. Nur ein Verständnis dieser inneren, eigenen Prozesse führt den Menschen in das Loslassen. Den Menschen in das freie Führen des Hundes zu bringen, ist nicht mit einem Satz getan. Ursache und Wirkung erfordern ein Verständnis, welches sich über Jahre entwickelt, wenn man den Blick dafür schult.

Die Aussage „Es geht nicht um die Technik“, klingt trivial und kommt uns mit ihrer Leichtigkeit in der Rede wie ein Werbeslogan vor. Warum die Kompetenz der Gefühle über der Wirksamkeit einer Technik steht, klären wir in diesem Text. Am Ende hoffe ich, etwas Aufschluss gegeben zu haben, warum das Scheitern mancher Mensch-Hund-Beziehungen schon vorprogrammiert ist. Es soll aber auch Mut machen, sich mit seinen Gefühlen und den daraus resultierenden Verhaltensweisen auseinanderzusetzen, um die nötigen Veränderungsprozesse in sich selber zu aktivieren. Sich seinen eigenen Höhen und Tiefen in der Landschaft der Gefühle kritisch und offen zu stellen, kann über eine stabilere Mensch-Hund-Beziehung hinaus führen, da das Begreifen der inneren Prozesse die Chance bietet, neue Ursachen zu legen, die wiederum neue Wirkungen schaffen.

Was ist Wirklichkeit? Ist Realität objektiv?

Um sich selber näher zu kommen, ist das Verständnis in Bezug auf die Realität grundlegend.

In Zeiten der medialen Marktschreier, welche die Wahrnehmung ihrer Realität an die virtuelle Litfaßsäule klatschen, stellt sich die Frage für den Beobachter: Welche Realität, welche Wirklichkeit, welche Wahrheit ist denn nun die Richtige? Diese Frage ist so spannend wie ernüchternd. Immer trifft nur die eigene Realität zu.

Für den freiberuflichen Wahrheitsverkünder wird dies vermutlich eine gesundheitsschädliche Aussage sein, die zu Empörung und Schnappatmung führt – denn seine Wahrheit fühlt sich nicht nur gut an, sondern stützt mit ihrer Richtigkeit die Grundsäulen der Rechtschaffenheit. Zu seiner Überraschung stimme ich ihm mit all seinen Dichtungen und Übertreibungen uneingeschränkt zu. Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt, welches wir mit unseren Sinnen bauen. Der Mensch sieht die Realität, wie er sie deutet. Man geht sogar einen Schritt weiter und sagt: Der Mensch sieht die Realität, wie er sie fühlt.

Wolf Singer, einer der führenden Hirnforscher, äußerte eine sehr interessante Erkenntnis: „Uns stellt sich die Wahrnehmung als ein hochaktiver hypothesengesteuerter Interpretationsprozess dar, der das Wirrwarr der Sinnessignale nach bestimmten Gesetzen ordnet und auf diese Weise die Objekte der Wahrnehmung definiert.“

Die grundlegende Bedeutung dieser Aussage ist, dass sich unsere Realität aus der Interpretation äußerer Signale und tief in uns sitzenden Mustern, den schon gemachten eigenen Erfahrungen, aufbaut. Jeder von uns, ausnahmslos, greift auf diese schon im Vorschulalter, bis etwa zum 13. Lebensjahr, angelegten Schemata und Muster zurück – und rekonstruiert neue Situationen aufgrund alter Erfahrungen, Bilder, Emotionen und seiner Brillen der eigenen Wahrnehmungen, die in uns angelegt sind. Daraus ergibt sich, dass es im Konstruktivismus wohl eine objektive Realität gibt, sie aber von uns emotional behafteten Menschen, deren Projektion von Wirklichkeit aus dem Mischen alter Erfahrungen mit neuen Beobachtungen entsteht, nicht erkannt werden kann. Der Buddhist sagt: Die Natur der Dinge ist Leerheit. Es hat Jahre gedauert, bis ich diesen Satz im Ansatz verstanden habe. Darüber nachzudenken lohnt sich. Er ist erschreckend nüchtern, aber befreiend.

Die Logik des Realitätsempfindens – die Ursachen eigener innerer Muster – im Menschen zu verstehen, kann für den Hundetrainer daher wichtig sein, um die Motivprogramme in sich und im Gegenüber besser einzuordnen. Das Entstehen dieser Motivprogramme im Mensch und Hund ist übrigens identisch. Beide internalisieren, verinnerlichen Emotionen, Bilder und Erfahrungen in frühesten Entwicklungszeiten und brennen diese Konstruktionen der Wirklichkeit ins Gehirn ein. Es wird ein Muster, ein Schema, geschrieben, das die Prozesse des Bewertens einer Situation beschleunigt, um ohne Umwege das dazugehörige Gefühl zu aktivieren, welches ein schnelleres Handeln in Gefahren ermöglicht. Wir greifen also in ähnlich schon erlebten Situationen auf alte Emotionen zurück.

Es gibt keine neuen Gefühle! In ihrem Ursprung sind sie immer alt. Sagt die Emotionspsychologie.

Verena Kaarst stellt fest: “Das Scheitern von Führung hat keine aktuellen Gründe. Vielmehr liegt die Ursache immer in der Vergangenheit. Das Scheitern wird stetig bestimmt, von den eigenen Mustern, Schemata und Typisierungen.”

Das Auftauchen dieser alten Emotionen können wir nicht umgehen, da sie einem Automatismus unterliegen. Solange man sich dieser inneren Systematik nicht bewusst ist, nicht lernt, ihnen gegenüber in Distanz zu treten, ist Innovation kaum zu erreichen. Darum nützt es auch nichts, sich unter noch mehr Druck zu setzen, um in der Konfrontation mit Hunden souveräner zu wirken, da wir nicht aus der Erkenntnis, sondern aus einem Motivprogramm heraus agieren. Zu wissen und zu akzeptieren, dass Emotionen (Angst, Panik, Wut, Gehässigkeit, Jähzorn) ihren Ursprung nie in der vorliegenden Situation haben, sondern aus dem Kinderzimmer kommen, auch wenn sie sich sehr real und gegenwärtig anfühlen, ist entscheidend, um emotionale Kompetenz zu erreichen. Wenn Sie einer wütenden, ängstlichen oder auch narzisstisch veranlagten Begegnung eine Denkaufgabe bis zum nächsten Treffen mit auf den Weg geben möchten, dann stellen Sie folgende drei Fragen:

Seit wann haben Sie das Gefühl?

Wann ist Ihnen das Gefühl erstmals bewusst geworden?

Welchen Profit haben Sie sich durch diese Handlung verschafft?

Prof. Dr. Rolf Arnold sagte dazu sehr treffend: “Ich muss lernen, die Welt anders zu denken, als ich gelernt habe, sie auszuhalten.”

Emotionale Kompetenz schafft nicht nur neue Möglichkeiten in der Kommunikation, sie ist der Grundstein dafür. Der Coach, der Hundehalter, der Mensch, der sich dieser Konstruktionen bewusst ist, wird besser in der Lage sein, den wahren Ursprung eines Verhaltens zu lokalisieren, wodurch eine bessere Positionierung im Geschehen möglich ist. Emotionale Kompetenz schafft erst eine Beziehung, die Grundlage, um Wirksamkeit überhaupt erreichen zu können. Beziehung kommt immer vor Erziehung.

Ich kann mir gut vorstellen, dass der eine oder andere nun sagt „Was für ein Quatsch!“ und „Was hat dieser Quark mit dem Hund zu tun?“ Alles! Gehässigkeit, emotionales Erdrücken, Behüten, Bemuttern, herrisches Führen, egozentrisches Einfordern, egomanisches Handeln gegenüber dem Hund, liegt nicht am Hund, auch nicht am Erwachsenen, liegt nicht am Trainer, liegt schon gar nicht an irgendeiner Sache, sondern an den Ursachen im Menschen. Ein jeder kennt diesen Schlag von Menschen. Man kann ihnen sogar die Harmonie in die Hand legen und es bringt nur Schaden mit sich. Unbeirrt, fokussiert und doch mit verschlossenem Herzen stampfen sie los und brennen ihre eigenen Interpretationen des vermittelten Wissens autoritär, ohne Luftholen, auf ihren Hund.

Um beiden zu helfen, erklären Sie nun, dass sein massives, nicht nur emotionales Einwirken auf seinen Hund unschöne Konsequenzen mitbringen wird. Die Dosis macht, dass es kein Gift ist. Verständnisvoll und tief betrübt nimmt er seine unangebrachte Verhaltensweise als mahnenden Antrieb zur Besserung. Beim Verabschieden will man einen Funken der Erleuchtung im Auge des Gemahnten erkannt haben und verabschiedet sich mit einem guten Gefühl. Es dauert nicht lange und Sie finden das gleiche Handeln am Hund wieder. Beleuchten Sie das Verhalten, aber bewerten Sie nicht. Für die Arbeit mit Mensch und Hund ist es grundlegend wichtig, den inneren Prozess des Menschen zu verstehen, der ja nicht aus einer Absicht heraus handelt, sondern aufgrund seiner inneren Bilder. Die Emotionsforschung sagt sogar, dass unsere emotionale Programmierung schon im Mutterleib stattfindet. Ich war erschrocken: Lach.

Sobald sich dieser Schlag von Menschen in einer Position der Autorität befindet ­– die Arbeit am Hund ist schon eine solche Position – dann projizieren jene Menschen die ausgelösten Empfindungen spiegelverkehrt. Das heißt, Menschen, die Autorität als Verneinung erfahren haben, als Kind oft gekränkt, verletzt, abgelehnt wurden, die Anerkennung rein über erbrachte Leistungen erhalten haben, verhalten sich in Disziplinarfragen jetzt ähnlich: Als selbst auftretende Autorität gegenüber anderen Menschen und ihrem Hund handeln sie kränkend, ablehnend, emotional verletzend, abwertend, emotional erdrückend – wie sie es selber erfahren haben. Natürlich trifft dies auch für positive Eigenschaften zu.

Dieses konfliktgeprägte Handeln bringt diesen ehrgeizgesteuerten Hundehalter aus einem Fordern, Fordern, Fordern in ein Erwarten, Erwarten, Erwarten. Jeder, der viel mit Menschen zu tun hat, weiß, was ich meine. Werden die eigenen Erwartungen dann nicht erfüllt, besonders vom Hund, externalisieren die Menschen lauthals. Externalisieren bedeutet in der Psychologie, die Verantwortung, wenn etwas nicht so funktioniert, wie Sie es von sich erwarten, nach außen zu verlagern. Dieses Schlichtmodell der Schuldzuweisungen verhilft dann dazu, das eigene Verantwortlichsein nicht spüren zu müssen. Bedauerlicherweise führt diese Haltung nicht selten zu dem, der es vermittelt hat. Viele Hundetrainer kennen das am eigenen Leib. Sie finden sich in kreierten Geschichten wieder, die aus einer komplexgeprägten Wahrnehmung unterstützt und geschrieben sind.

Shitstürme haben nur die Macht über uns, die wir ihnen geben.

Stillleben - Mit Hunden lebenGehören Sie nun zu den Menschen, die sich in einer Erzählung wiederfinden dürfen, die sich mit geballtem gruppendynamischen Ehrgeiz zu einer emotionalen Supernova aufbläht, aufgrund der vielzähligen hypothesengesteuerten Interpretationen, welche sich an diesem geschichtlichen Vorantreiben beteiligen, dann beweisen Sie emotionale Kompetenz, indem Sie dazu in Distanz treten. Die Fähigkeit, mit Dynamik in einer Gruppe umgehen zu können, heißt emotional kompetent zu sein. Sich nicht mitreißen zu lassen, nur weil jemand einen Steilpass in die Masse schießt und eine Horde unreflektierter Seher auf die erzeugte emotionale Resonanz mitschwingt. Tobias Broche schreibt in seinem Buch Gruppendynamik in der Erwachsenenbildung:

“Man tut zwar immer so, als ginge es um die Sache, um ein Thema. Aber in Wahrheit kommen die Menschen wegen einer Reihe viel komplexerer Bedürfnisse zusammen. Es geht darum, sich neu auszuprobieren, sich neu in der Gruppe positionieren zu können, einen Platz zu erkämpfen. Es geht darum, gesehen zu werden. Und sehr oft übertrumpft das gruppendynamische Bedürfnis das sachliche Bedürfnis komplett.”

Ein guter Freund sagte mir bei einem gemütlichen Beisammensein: Das erste, was er in seinem Psychologiestudium gelehrt worden sei, sei, die Menschen danach zu beurteilen, wie sie auf eine in die Masse geworfene Meinung reagieren. Das subjektive Anhaften an einer Meinung ohne Überprüfung der Fakten spiegelt den geistigen Horizont der Menschen wider. Er sagte weiter, dass sich aus dieser Handlung heraus erkennen lasse, wie differenziert diese Menschen ihr Weltbild wahrnähmen. Menschen, die glauben, dass alles so ist, wie es serviert wird, leben in einer Illusion. Man wundert sich zunächst, welche Charaktere lauthals aufschreien, um auf die Klaviatur des Anprangerns in einer Gruppe mit einzudreschen – doch nach längerer Beobachtung sind diese Menschen genau da, wo sie sein müssen. Mut, Kraft und große Worte finden sich nur in ihrer eigenen virtuellen Komfortzone wieder. Das Anhaften an der Übertreibung spiegelt sich in ihrem ganzen Leben wider. Lernt man die Menschen persönlich kennen, ist von aller heldenhaften Tugend, die sie noch vor dem Bildschirm zeigen, nur noch wenig zu finden.

CG Jung sagte:
“Wenn ein Mensch auf eine Situation unverhältnismäßig reagiert, dann stülpt sich ein Komplex nach außen! Solche Menschen sehen überall da Angriff, wo keiner ist. Er verkennt die Situation, weil er komplexgeprägt auf die Sache schaut. Erzählt ein Wahrheitsverkünder seit 3 Wochen von nichts anderem als von seiner Sache und beschreibt er sie so, als ginge es um Leben und Tod, dann können Sie sicher sein, dass dieser Mensch komplexgeprägt blickt.”

Gruppendynamik, ob digital oder analog, unterliegt den gleichen inneren Strukturen. Wir neigen dazu, uns adaptiv zu verhalten, sobald wir in der Gesellschaft stehen. Wir verändern unser Verhalten gegenüber unserem Hund, sind plötzlich aus Verlegenheit viel toleranter, unsicher, unbeständig und trauen uns nicht, dem Hund seinen Affentanz abzusprechen. Wir neigen in die Diskussion zu gehen, nur um nicht handeln zu müssen. Bleiben Sie standhaft in ihren distanzierten Reflexionen, auch wenn Ihnen ein Negativbild um die Ohren fliegt, weil Menschen Geschichten schreiben, wo sie gar nicht zugegen waren. Das ist alles ohne Bedeutung.

Warum ist es so wichtig, die eigenen Muster zu erkennen, aufzubrechen, die alten Bilder neu zu bestücken, wenn Sie nur mit einem Hund leben möchten?

Haben sie einen Hund, der in seinem Wesen nicht sonderlich auffällig ist, den sie rein über materielle Motivationen führen und der sich dadurch auch leicht ablenken lässt, dann spielt die emotionale Kompetenz keine so große Rolle und man lebt in seiner Realität glücklich und bestätigt – solange man es aushält. Lebt aber ein Hund in ihrem Haus, der Verhaltensauffälligkeiten zeigt, die nicht mehr über Ablenkung kaschiert werden können, geraten wir sehr schnell an eine emotionale Grenze, weil wir dem Hund mental auf gleicher Höhe begegnen müssen. Einem klaren Wesen gegenüber zu stehen ist Anspruch, was den gnadenlosen Blick in den Spiegel zur Folge hat. Die Demokratie bietet uns hier keinen Schutz. Wir müssen uns verändern, neue Ursachen in uns selber legen, um Wirkung zu erzielen. Ein Schauspiel wird gefährlich. Wird der Mensch mit der kompromisslosen Klarheit des Hundes durch ein konfliktbestücktes Verhalten, welches sich unangekündigt, situativ nach außen stülpt, überrascht, ist emotionale Kompetenz unabdingbar, um die Situation sachlich zu managen. Niemand kann ohne Emotionen auf eine Sache blicken, denn vor der Emotion steht immer die Bewertung. Jeder bewertet, wenn die Situation eine emotionale Wertigkeit in sich birgt. Diese Prozesse sind allerdings so schnell, dass sie uns nicht bewusst sind. Die entscheidende Frage ist nur, in welcher Intensität und durch welche Brillen wir blicken. Emotionale Kompetenz kann man lernen.

Man muss es aber auch wollen. Die nach außen gelebten Einstellungen „Aber ich bin eben so, ich werde mich doch nicht für den Hund in meiner Persönlichkeit ändern“ oder „das kann ich nicht, ich habe zu viel Angst“ sind klassische Aussagen, die im Hinblick auf eine Veränderung nur hinderlich sind.

Neufundländer verschläftDie Buddhisten sagen sinngemäß: “Wer tausend Gründe findet, sich seiner eigenen Erkenntnis zu entziehen, ist ein Faulpelz.” Keiner sagt, dass es einfach ist, sich seinen Gefühlen zu stellen. Es ist auch nicht einfach, mit den negativen Emotionen auf Dauer zu leben. Emotionen sind so mächtig wie sie alt sind. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus konnte ich sehr häufig beobachten, wie Menschen zu Beginn im Prozess des Beziehungsaufbaus zum Hund emotional zusammenbrechen. Es fließen nicht selten Tränen, wenn nach dem Verstehen der Motive des Hundes der emotionale Kanal im Menschen freigespült wird, da alle Masken fallen und sich ein Blick auf die eigenen Muster einstellt. Viele brechen auch ab, weil das Aufarbeiten der eigenen alten Emotionen nicht umgangen werden kann, wenn man sich tiefgreifend mit dem Wesen des Hundes beschäftigt. Es ist unvermeidlich, sobald man sich im Fluss der Resonanz befindet. Vielleicht gehören auch Sie zu jenen, die schon resigniert auf dem Sofa saßen, in Tränen aufgelöst, weil Sie mit dem konfliktbehafteten Verhalten ihres Hundes so überfordert waren, dass Sie geschwächt zusammensanken. Das ist gar nicht so selten wie Sie vielleicht meinen. Doch was steckt genau dahinter?

Vorweg: Diese Hilflosigkeit, aus solch einer emotionalen Lebensschleife herauszutreten, hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Schnell neigt der Mensch dazu, an seiner Intelligenz zu zweifeln, weil er das theoretische Wissen in Drucksituationen nicht abrufen kann. Emotionale Kompetenz hat nichts mit rationalem Denken zu tun. Emotionale Kompetenz heißt, sich bewusst zu sein, dass wir alle Komplexe, Muster in uns tragen und danach handeln. Der eine stülpt sie permanent nach außen, der andere lässt sie überwiegend im Inneren. Haben tun wir sie alle. Wir handeln programmgesteuert.

Das heißt: In Drucksituationen handelt der Mensch immer aus dem Bauch heraus. Im Bauch stecken die Intuition, die vorhandene Erfahrung, die alten Bilder, die alten Wahrnehmungen. Man sagt nicht umsonst „aus dem Bauch heraus entscheiden“. Wussten Sie, dass im Bauch die gleichen neuronalen Prozesse wie im Gehirn stattfinden? Die Biologen sprechen von einem Bauchgehirn. Aus dem Bauch heraus zu handeln heißt, das innere Kind zu mobilisieren. Das Kind, das wir waren, tragen wir in uns, bis zum letzten Atemzug. Es offenbart sich in der Kreativität, in der Fröhlichkeit, in der Kränkung, im Traurigsein, in der Depression, in der Scham, im Verhalten, andere zu unterdrücken, abzuwerten, zu manipulieren usw.

Nun wird es interessant. Geraten wir in eine Situation, die zu allem Übel noch eine hohe emotionale Wertigkeit in sich birgt (Ärger, Anfeindungen, Anklagen, Hilflosigkeit, Ablehnung, Angst, das Gefühl des Versagens), dann reagieren wir alle, ausnahmslos, in solchen Neuauflagen der alten Geschehnisse mit den unerfüllten Bedürfnissen des inneren Kindes solange, bis wir sie aufgearbeitet haben. Das muss uns allerdings erst einmal bewusst sein!

Heile das innere Kind!

Haben wir als Kind ein Defizit in den Bedürfnissen von Anerkennung, Geborgenheit, Bestätigung, Nähe, Sicherheit usw. von der uns vorgelebten Autorität erfahren (damit sind nicht nur die Eltern gemeint), dann wird der Erwachsene in Situationen, wo diese Bedürfnisse gebraucht werden, im Außen danach suchen. Das kennen wir alle! Wir fühlen uns in brenzligen Situationen wohler, wenn der Coach an der Seite steht. Gehen wir dann ohne diese Stütze in ähnliche Situationen, dann fühlen wir uns hilflos, unfähig, kurz vorm Resignieren. Wir stehen dann vor emotionalen Löchern, die wir nicht in der Lage sind, selber aufzufüllen, weil uns dieser Automatismus gar nicht bewusst ist. Wir stecken im Programm fest. Die Aufgabe eines jeden Trainers sollte daher sein, die Abhängigkeit zum Trainer so minimal wie nur möglich zu halten. Es muss darauf hingearbeitet werden, dass der Mensch diese unerfüllten Bedürfnisse des inneren Kindes alleine auffüllen kann, damit richtiges Handeln möglich wird.

Für mich war und ist dieses Wissen hilfreich, um mich selber und mein Gegenüber besser begreifen zu können. Grundlegend für eine Veränderung ist, zu akzeptieren, dass wir uns unseren alten Erfahrungen nicht entziehen können, uns bewusst sind, dass wir sie haben – und nur dann eine Veränderung erfahren, wenn wir lernen, zu diesen Emotionen, Mustern, Bildern in Distanz zu treten. In brenzligen Situationen ein sehr schwerer Ausstieg. Emotionale Kompetenz ist das Fundament, um aus einer unreflektierten Gewissheit herauszutreten, um das Gegenüber durch unsere eigenen Muster nicht festzulegen. Wir glauben zu oft, alles wirklich zu wissen, das Gegenüber wirklich zu kennen. Dabei kratzen wir nur an der Oberfläche und sind überzeugt, den Stein der Weisen gefunden zu haben.

Wenn der Hund das Auffangbecken unerfüllter Bedürfnisse und Emotionen aus der Vergangenheit ist, dann ist das bedauerlich. Mitgefühl stellt sich aber genau dann ein, wenn wir erkannt haben, dass der Mensch in der Kausalität Ursache und Wirkung gefangen ist und gar nicht erkennt, dass er seine Realität anders gestalten kann.

Auch wenn nun mein kleines unbedeutendes Beispiel ein Negativbild geschaffen hat, habe ich mir aufgrund dieser beschriebenen Thematik nun ein gewisses Maß an Mitgefühl erarbeitet. Ein Spiegel ist deshalb so gnadenlos, weil er still ist. Vielleicht hat der Geduldige diesen Blogeintrag bis zum Schluss gelesen. Vielleicht aber auch nicht. Selbst wenn diese Zeilen ins Nichts rutschen, so bleiben sie nicht unerhört. Es mir wirklich ein Bedürfnis, Ihnen als Begleitung des Trainingsalltags einen tiefgreifenden Denkanstoß mitzugeben, um dem Druck besser und besser zu sein, die Situationen souveräner und vorbildlicher zu zeigen, zu widerstehen. Wichtig ist, dass Sie sich im Klaren sind, dass Sie in Hundebegegnungen ihre Gefühle von Angst nicht einfach ändern können, nur weil ich sage „da müssen wir irgendwie cooler durchgehen“. Durch müsst ihr trotzdem. Lach. Es soll aber besonders den Menschen, mit denen ich trainiere, aufzeigen, dass eine Veränderung in sich selber unglaublich schwer ist und weit über das Hundetraining hinaus geht.

Beenden möchte ich diesen recht langen Blogeintrag mit den Worten von Maturana:

„Ich bin zwar verantwortlich für das, was ich schreibe, nicht jedoch für das, was ich lese.“

www.mit-hunden-leben.com

Über den Autor

Carsten Wagner

Kommentare

  • … kann nur DANKE sage….. und vom Buddhismus aus betrachtet, nicht nur die Summe DIESES Lebens, sondern das von TAUSENDEN …. SO WAHR…. und ich freue mich so, Ihnen begegnet zu sein…

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