Verhalten / Beratung

Aktiver und passiver Stress

Setter - Mit Hunden leben
geschrieben von Carsten Wagner

Gründe für unsicheres Verhalten gibt es unzählige. Fehlerhaftes Erbgut, unzureichende Sozialisierung oder einseitige bis ausbleibende Prägung in den kritischen Phasen können Ursachen für Konflikte mit der Umwelt sein. Obgleich Haushunde eine genetische Disposition haben, die es ermöglicht, in einer mit Reizen überfluteten Umwelt leben zu können, müssen sie dennoch auf dieses Leben vorbereitet werden. Gegeben der Fall, dass unser Hund, aus welchen Gründen auch immer, Umweltunsicherheit aufweist, stellt sich erneut die Frage: Wie können wir ihm helfen?

Auch dieses Thema ist viel zu komplex, als dass es pauschalisiert werden könnte. Vereinfacht ausgedrückt unterscheidet sich das Verarbeiten von Stress durch eine aktive und passive Haltung. Ein aktives Verarbeiten von Stress ermöglicht dem Hund ein selbstständiges Kontrollieren von Umweltreizen. Belastungen können ohne fremde Hilfe eingeordnet, verarbeitet und somit beendet werden. Damit der Hund den Reiz als neutral einstufen kann, ist es wichtig, ihn nicht vorzeitig aus der mit Reizen überfluteten Umgebung zu nehmen. Wir dürfen uns in diesem Prozess als helfende Instanz nicht zu schnell einbringen, um das Erlangen der Stabilität nicht zu verhindern. Viele Menschen können ihren Vierbeiner weder zittern noch hecheln sehen und spüren ein Verlangen, den Hund augenblicklich aus der belastenden Situation zu reißen. Doch genau dieses menschliche Verlangen helfen zu wollen verhindert, dass der Hund eine positive Erfahrung machen kann.
Die eigene Emotion behindert den Fortschritt. Hecheln, Zittern, Fiepen sind in diesem Zusammenhang Verhaltensweisen, die darauf hinweisen, dass der Stress vom Hund gerade verarbeitet wird. Das bedeutet, dass der Hund den eigentlichen Stress schon vorher gehabt hat. Hat man also das Bedürfnis den Hund zu bemitleiden, sollte man es vorher tun. Alles was aktiv verarbeit wird, hat seinen Ursprung im Früher. Wer helfen will darf kein Mitleid haben, da so die Heilung verhindert wird. Das Mitgefühl sollte jedoch immer vorhanden sein, um das Vertrauen nicht zu verletzen. Ist der Hund zur Ruhe gekommen und hat eine entspannte Haltung eingenommen, erfolgt eine Erholungsphase, nach der es wieder, nach angemessener Zeit, in die Ausgangsposition zurück geht. Genau dieses gezielte Konfrontieren mit Stressoren stabilisiert letzten Endes den Hund.

Warum sollte in der aktiven Verarbeitung nicht mit Futter gearbeitet werden?

Im aktiven Prozess der Stressbewältigung ist das Bestätigen mit Futter ungeeignet, da Futter keinen Erziehungsprozess auslöst, sondern nur eine Erwartungshaltung aufbaut. Knut Fuchs, ein begnadeter Hundesportler sagte einmal: “Futter lenkt nur von der Arbeit ab”. Ich mag diesen Satz, weil er so tief in seiner Aussage ist. In unserem Fall würde das Futter von der eigentlichen Aufgabe ablenken, da sich der Hund nur rein situativ, materiell an den Halter bindet. Der Reiz wird so nur oberflächlich ausgeklammert, da sich der Hund durch die stetige Erwartungshaltung gar nicht komplett auf den Reiz einlassen kann. Man könnte sagen, der Therapeut steht hier im Weg, da er nicht zulässt, dass sich sein Klient alleine mit der Situation auseinander setzen kann. Er nimmt zu viel Einfluss, lenkt somit ab und bestätigt unbewusst womöglich den falschen Moment. Ein guter Therapeut verteilt keine Bonbons, sondern gibt nur soviel Hilfe wie gerade nötig.

Wie kann man den Hund in diesem Prozess unterstützen?

Eine nicht zu unterschätzende Stütze ist die intakte, harmonische Beziehung zum Hund. Daher halte ich es für klug, erst einmal eine stabile Beziehung zu etablieren, bevor man sich an das eigentliche Problem heranwagt. Wissenschaftliche Studien haben bewiesen, dass durch die soziale Unterstützung von Gruppenmitgliedern eine Situation entspannt werden kann. Der souveräne Sozialpartner verhilft dem gestressten Hund durch seine Ruhe und durch kompetente Führung, eine Lage “umbewerten” zu können. Wissenschaftliche Studien haben weiter herausgefunden, dass eine harmonische Beziehung die Herzschlagrate um 10-20% sinken lässt und dass die Reaktivität des Nebennierenrindensystems vermindert wird, was sich wiederum auf die Cortisonwerte, die großen Einfluss auf das Stressverarbeiten haben, positiv auswirkt. Vertrauen schafft die Basis der Zusammenarbeit.

Interessant finde ich, dass Hunde Reize besser in der ruhigen Bewegung neutral einordnen lernen. Solange der Hund in der Bewegung Reizen gegenüber nicht neutral ist, kann er die gewünschte Neutralität schon gar nicht in der Disziplin (in der Ruhe) leisten. Das erklärt wiederum, weshalb es wenig Sinn ergibt, den Hund ohne Beziehung in einer mit Reizen überfluteten Umgebung in die Ruhe zu legen. Er könnte die Ruhe nur schwer leisten, da er keinen Bezug zu einer kompetenten Führung hat und dies würde zu Konflikten führen. Erst wenn das Vertrauen gefestigt ist, kann man vom Hund erwarten, dass er das blockierte Fluchtverhalten ertragen kann. Bei Hunden, die in einer Beziehung stehen und die den Stress aktiv verarbeiten können, darf Flucht im Stressmanagement somit keine Option mehr sein, da die Flucht verhindert, sich aktiv mit den Reizen auseinander zu setzen.

Bei der passiven Stressverarbeitung verhält es sich ganz anders. Hunde, deren Stressbewältigung passiver Natur ist, verhalten sich widerstandslos, ergeben sich, blockieren und verharren oft apathisch in der Situation. Hier ist es dem Hund nur kurzfristig möglich Ressourcen bereit zu stellen, um die Belastung anzugehen. Diese Hunde unterliegen oft einem Kontrollverlust und verfallen in eine Hilflosigkeit. Es ist von absoluter Wichtigkeit, das zu erkennen, da dieses Verhalten keine Möglichkeit bereitstellt, alleine aus dieser Situation zu entkommen. Diese Hunde brauchen den Sozialpartner ganz besonders. Die Substanz der Beziehung ist somit noch entscheidender. Das Arbeiten mit passiven Hunden oder auch mit sehr ängstlichen Hunden, die nur schwer ansprechbar sind, geht allerdings schon ins therapeutische Lernen. Daher kann Futter, richtig eingesetzt, eine wichtige Unterstützung sein, um das Ansprechen zu ermöglichen. Bei Hunden, die nur Fluchtverhalten zeigen und somit jeden Zugang verhindern, wird auch Futter nur schwer eine Brücke bauen können. Hier könnte das therapeutische Longieren eine Möglichkeit bieten, um den Hund in eine Aufnahmebereitschaft zu bringen. Im Text hatten wir schon darüber gesprochen, dass der Hund in der ruhigen Bewegung wesentlich schneller in die Neutralität gelangt. Im therapeutischen Longieren kommt dies klar zur Geltung. Solche Hunde brauchen einen Profi. Eine Schusteranalyse hätte hier fatale Folgen.

Man sieht, dass die Herangehensweise abhängig von der Problematik und dem Individuum ist. Was für den einen gut ist, kann für den anderen sehr zum Nachteil sein. Für mich ist wichtig zu zeigen, dass man vor schematisierendem Denken halt macht und immer das Gesamtpaket erfasst.

Fazit:

Stress ist ein Prozess und weniger ein Reiz oder eine Reaktion auf etwas. Es ist die Auseinandersetzung eines Organismus mit der Umwelt. Die Stressbewältigung hängt demnach von der genetischen Veranlagung sowie den gemachten Erfahrungen und Entwicklungen des Individuums ab. Es ist quasi die Kombination dieser beiden Komponenten, die bestimmen, wie der Stress verarbeitet wird. Mit gestressten Hunden zu arbeiten erfordert ein geschultes Auge, um aktiv und passiv zu unterscheiden, denn es gibt auch Fälle, wo man den Eindruck gewinnt, der Hund verhalte sich passiv, obwohl genau das Gegenteil der Fall ist. Es sollte bei dieser Arbeit auch genau erkannt werden, in welchem Stresslevel der Hund sich gerade befindet und ob es ihm gerade noch möglich ist, etwas Positives aufzunehmen oder ob er blockiert. Die Herangehensweise kann nicht pauschalisiert werden und muss immer individuell betrachtet werden.

Klar ist, dass man aus dem ängstlichen Hund nicht einfach mal den stabilsten Hund zaubert. Lücken bleiben Lücken. Dennoch kann man den Hund durch Arbeit, Zeit und Vertrauen so weit stabilisieren, dass sein Leben wieder lebenswert wird. Man muss sich eben die Zeit nehmen!

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Carsten Wagner

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